Thursday, 28th March 2024
28 März 2024

Sierens China: Fortschritt „Made in China“

Der Westen staunt über Chinas rasanten Aufstieg und seine Innovationskraft. Chinesen betrachten hingegen die vergangenen 200 Jahre als Ausnahme. Es ist Zeit, alte Klischees über Bord zu werfen, meint Frank Sieren.

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Als ich vor 25 Jahren nach Peking kam, war die Öffnungspolitik des Reformers Deng Xiaoping bereits in vollem Gange. Dennoch: Hätte ich damals, im August 1994, aufgeschrieben wie China im Jahr 2018 aussehen würde – man hätte mich für einen Spinner gehalten. Die atemberaubende Geschwindigkeit, mit der China besonders in den vergangenen zehn Jahren gegenüber dem Westen aufgeschlossen hat, hatte aber auch ich mir nicht träumen lassen. Lange herrschte ein Machtgleichgewicht zwischen dem Westen und China. Der Westen hatte die Technologie, die Chinesen den großen Markt und waren die Fabrik der Welt. Ihre Kopien unserer Produkte konnten uns lange nicht gefährlich werden.

Getäuscht von den eigenen Vorurteilen

Inzwischen jedoch sind die Chinesen selbst innovativ. Sie revolutionieren das Geld- und Bankensystem mit den Smartphone-Bezahlapps WeChat Pay und Alipay. Die Huawei-Handys sind so fortschrittlich wie die von Apple und haben bei den globalen Verkaufszahlen das iPhone hinter sich gelassen. Vergangene Woche landete die chinesische Sonde Chang’e 4 auf der Rückseite des Mondes. Das hat noch kein anderes Land geschafft. In China sind Elektrobusse längst Alltag – in Deutschland noch ein Modellversuch. Und was die Künstliche Intelligenz betrifft, sind die Chinesen auf Augenhöhe mit dem Rest der Welt.

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Erstaunt fragen wir uns: Wie konnte das kommen? Wir sind schlicht auf unsere eigenen Vorurteile reingefallen. Wir haben tatsächlich geglaubt, die Chinesen können nur kopieren. Diese Vorstellung – das muss man im Nachhinein einräumen – war schon ein wenig naiv. Es wäre ja auch sehr unwahrscheinlich, dass es unter 1,4 Milliarden Menschen nicht eine große Gruppe junger, kreativer Menschen gibt, die sich irgendwann bemerkbar macht. Und tatsächlich: Kaum waren die Rahmenbedingungen günstig, ging es los mit dem Innovationsschub.

Schon in der Vergangenheit war China innovativ

Das kam für uns überraschender als für die Chinesen. Denn sie haben eine andere Perspektive auf ihr Land: Während wir im Westen die Rückständigkeit Chinas für normal hielten, betrachteten die Chinesen sie als vorübergehende Schwächephase. China war ja in seiner Geschichte schon wirtschaftlich stark und innovativ. Nun kehrt es nach 150 Jahren Pleiten, Pech und Pannen gewissermaßen wieder auf sein gewohntes Niveau zurück. Noch 1820 machte China fast ein Drittel der Weltwirtschaft aus. Das folgende „Jahrhundert der Demütigungen“ mit Opium-Kriegen, kolonialer Fremdbestimmung und japanischem Einmarsch bewerten sie als Durchhänger, der nun zum Glück endlich überwunden ist.

DW-Kolumnist Frank Sieren

Über die Ursachen des damaligen Einbruchs macht man sich heute nichts mehr vor. Dass der Westen China in die Knie zwingen konnte, lag an der Überheblichkeit des chinesischen Kaiserhofes, der sich zu lange für den Nabel der Welt hielt. Und glaubte, dem technischen Fortschritt, der sich in Europa Bahn brach, den Rücken kehren zu können. Peking war überzeugt, es spiele außer jeder Konkurrenz. Und so verschlief das Kaiserreich der Qing mal eben die industrielle Revolution. Reformer wie Kang Youwei und Liang Qichao mussten unter Androhung der Todesstrafe das Land verlassen. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war China unregierbar und wäre fast zerbrochen. Erst vor genau 40 Jahren im Dezember 1978 hat es sich der Welt wieder geöffnet.

An den Politikern, die heute in China regieren, kann man viel kritisieren. Man kann ihnen jedoch nicht vorwerfen, dass sie den internationalen technologischen Wettbewerb nicht genau im Blick hätten. Sie unternehmen sehr viel, um aufzuschließen und in manchen Bereichen sogar innovativer als der Rest der Welt zu werden. Denn sie haben ihre Lektion bitter gelernt.

Auch Deutschlands Aufstieg begann mit Kopien

Im ersten Schritt wurden Kopisten unterstützt, die der Kopie etwas Neues, oftmals auf den heimischen Markt zugeschnittenes, hinzufügten. So konnten aus Messenger-Apps wie WeChat und Lieferdiensten wie Meituan Multifunktionsplattformen entstehen, mit denen man gleichermaßen Flugtickets und Arztbesuche buchen kann – „Fernbedienungen für unsere Leben“, wie es Connie Chan von der amerikanischen Venture-Capital-Firma Andreessen Horowitz ausdrückt.

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Längst ist übrigens vergessen, dass auch Deutschland einst die Lokomotiven der Engländer kopiert hat und „Made in Germany“ als herabwürdigende Bezeichnung der Briten für billige deutsche Kopien gedacht war. Die Deutschen kamen industrietechnologisch aus dem Nichts. China hingegen war jahrhundertelang eines der innovativsten Länder der Erde, mit Erfindungen wie Papier, Porzellan, Schwarzpulver und Kompass. Wir sollten uns also schnellstens vom Klischee des gleichförmigen Ameisenvolkes verabschieden, das ohne eigenen Willen Planziele erfüllt und den Westen mit billigen Fälschungen unserer eigenen Produkte überrollt – ein Klischee übrigens, das der Westen in den 1980er-Jahren ganz ähnlich auch auf Japan projizierte.

Chinas Fortschritt basiert immer mehr auf seinen kreativen Köpfen. Und es sieht so aus, als prägten deren Ideen bald die Entwicklung der Menschheit maßgeblich mit. Besonders erstaunlich ist, dass die Innovationskraft in einem autoritären Staat explodiert. Aber offensichtlich ist die Freiheit zumindest groß genug für Innovation. Denn kopieren kann man befehlen, Kreativität und Innovationskraft nicht. Inzwischen ist klar: Jeden Tag werden die Chinesen ein Stück unabhängiger von westlicher Technologie. Der Westen wird aber nicht unabhängiger vom chinesischen Markt. Der Vorstandsvorsitzende von Volkswagen hat es in diesen Tagen auf den Punkt gebracht: „Die Zukunft von VW wird in China entschieden.“ 

Unser Kolumnist Frank Sieren lebt seit 25 Jahren in Peking.

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