Thursday, 25th April 2024
25 April 2024

Lehren des DFB-Jahres: Die WM war kein Ausrutscher

Gründe gibt es viele für das desaströse DFB-Jahr.

Von A. Rau, C. Wolf, S. Giannakoulis und T. Nordmann


Von wegen alles im Griff: Hinter Bundestrainer Joachim Löw und der DFB-Elf liegt das schlechteste Jahr ihrer Geschichte, die Weltspitze ist weit weg. Über einen historischen WM-#zsmmbrch und sportliche Katastrophen.

1. Die Maßstäbe haben sich verschoben

Also sprach Joachim Löw: "Ich bin absolut entspannt. Nach diesem Jahr sowieso." Es gebe keinen Grund zur Aufregung. "Sorgen? Warum soll ich mir Sorgen machen? Gedanken, die mache ich mir schon, klar." Aber es sei doch so: "Wir agieren fußballerisch auf ganz hohem Niveau." Ein Jahr ist es her, dass am 14. November 2017 ein zufriedener Bundestrainer im Parterre des Kölner Stadions saß. Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft hatte gerade 2:2 gegen Frankreich gespielt. Es war ein Freundschaftsspiel, in dem seine Mannschaft zweimal einen Rückstand ausgeglichen hatte. Vor allem aber war es der Abschluss eines erfolgreichen Jahres, in dem die sie kein einziges Mal verloren hatte.

Ein Vorrundenaus bei der Weltmeisterschaft in Russland und einen Abstieg aus der Nations League später sagte Löw an diesem Montagabend nach dem verschenkten Sieg gegen die Niederlande in Gelsenkirchen: "Dieses Jahr war ein schlechtes Jahr, ein enttäuschendes Jahr." Die Botschaft, die der Bundestrainer zwölf Monate zuvor mit einer bis an die Grenze der Selbstgefälligkeit zur Schau gestellten Ruhe vermitteln wollte, war: Ich habe alles im Griff. Und es gab kaum jemanden, der ihm das nicht abgenommen hatte. Davon ist nach dem schlechtesten Jahr in der Länderspielgeschichte des DFB nicht mehr viel übrig. Nach der desaströsen WM räumte Löw gar ein, sein Credo des totalen Ballbesitzfußballs sei "fast schon arrogant gewesen". Doch das Erstaunliche ist, dass er mittlerweile genauso wenig um seinen Job bangen muss wie vor einem Jahr. Dabei haben die beiden Spiele gegen den Weltmeister aus Frankreich, die Niederlage in Amsterdam und nun auch das Remis gegen die Niederlande gezeigt, dass die deutsche Nationalelf längst nicht mehr zur Weltspitze gehört. Bezeichnet ist auch, dass Löw nach dem 1:2 gegen Frankreich stolz wie Bolle war – obwohl die DFB-Elf verloren hatte. Das ist nicht ehrenrührig, zeigt aber, wie die Maßstäbe sich verschoben haben.

2. Turnier#mnnschft? Gestrichen!

Nicht nur die Geschichtsbücher mussten umgeschrieben werden, Stichwort: historischer Vorrunden-WM-Super-Gau. Auch im großen Fußball-Wörterbuch gibt es jetzt eine Leerstelle, unter "T" wie "Turniermannschaft". Dort war jahrzehntelang zu lesen: Sobald ein Turnier beginnt, fängt die deutsche Nationalelf doch noch an, Fußball zu spielen. Nicht unbedingt schönen, aber schön erfolgreichen. Egal wie rumpelig der Weg zu EM oder WM gewesen sein mochte, egal wie haarscharf die DFB-Elf an Testspiel-Blamagen gegen Fußballzwerge vorbeigeschlittert war. Das war immer so und das sollte auch 2018 so sein, weshalb sich Spieler und Bundestrainer, Fans und Medien trotz schlechter WM-Vorbereitung und trotz eines noch schlechteren WM-Auftakts trotzig unterhakten, Gary Lineker zitierten und sich einredeten: Wird vielleicht nicht schön. Aber: wird schon. Turniermannschaft halt. Immerhin: Auch nach dem #zsmmbrch in Kasan, diesem WM-Bankrott im Verliererboot, kann der große Fußballpoet Gary Lineker noch zitiert werden. Daher ist es Zeit ist für einen neuen Eintrag, unter "G" – wie "Große WM-Illusion".

3. Joachim Löw musste zum Umbruch gezwungen werden

Der personelle Umbruch deutet sich an, er kommt allerdings spät.

Die Nations League habe man vielleicht ein wenig zu hoch gehängt. Das sagte Löw, als er mit seinem Team aus eigener Kraft keine Chance mehr hatte, den wenig später besiegelten Abstieg aus der A-Gruppe zu verhindern. Aber was sagt das aus – außer Angst? Angst vor der nächsten Enttäuschung nach dem WM-Desaster? War es wirklich so, dass die Fans, die Medien und der Verband den Trainer angezählt hätten, wenn er darauf gekommen wäre, dass der Nationalmannschaft nach Jahren der personellen und systemischen Konstanz ein konsequenter Umbruch gut täte? Wohl nicht. Erst als es nicht mehr ging, als der Druck so groß wurde, dass Löw ernstlich um seinen Job bangen musste, da ging er ins Riskio. Da ließ er Leroy Sané und Serge Gnabry an der Seite des bereits etablierten Timo Werner von der Kette, da durften sich die mittlerweile als Bereicherung wahrgenommenen Thilo Kehrer und Nico Schulz versuchen. Da setzte Löw das Leistungsprinzip wieder ein. Der Umbruch kam, aber er kam spät. Und er war erzwungen. Nun aber scheint Löw ihn voranzutreiben. Sami Khedira ist nicht mehr dabei, Jérôme Boateng war zu den jüngsten beiden Spiele nicht eingeladen, und Thomas Müller ist nur noch Ergänzungsspieler. Der bekam in seinem 100. Länderspiel zwar noch 23 Minuten Einsatzzeit. Das vom Trainer versprochene Lob und Weißbier dagegen (noch) nicht.

4. Die Illusion des starken Nachwuchses

Bei der WM fehlte Sané – absolute Topleistungen zeigt er allerdings auch erst seit Kurzem.

Auf Confed-Cup-Rausch und U21-EM-Titel folgte der #zsmmnbrch. Ein Grund der Misere ist der Nachwuchs. Es war eine Illusion zu glauben, der Bundestrainer habe nach dem Gewinn des Confed Cups und der U21-EM im Sommer 2017 eine nahezu unüberschaubare Zahl sehr guter Nachwuchsspieler zur Hand. Emre Can und Serge Gnabry waren zum Zeitpunkt der WM verletzt, die hochgelobten Mittelfeldspieler Max Meyer und Amin Younes spielten sich beim FC Schalke und Ajax Amsterdam durch Suspendierungen ins Abseits. Benjamin Hinrichs, mittlerweile bei der AS Monaco, dürfte auf kaum einer Shortlist für WM-Kandidaten geführt worden sein. Leroy Sané nahm Löw nicht mit zur WM, was laut Taktikexperte Constantin Eckner zwar eine plausible Entscheidung war, jedoch erst in Anbetracht der jüngsten Leistungen als großer Fehler erscheint. Und mit einem derart reüssierenden Kai Havertz, der nach seinem fulminanten Auftritt gegen Russland große Hoffnungen weckt, war vor dem Turnier so nicht zu rechnen. Ja, vielleicht hätte er in Russland mehr auf den Leverkusener Julian Brandt und Leon Goretzka vom FC Bayern setzten sollen. Aber insgesamt drängte sich der Nachwuchs nicht so auf, wie viele prognostiziert hatten. Auch DFB-Nachwuchschef Meikel Schönweitz gab zu: "Erst die WM hat eindrucksvoll gezeigt, wie weit man mit Mentalität und Variabilität kommen kann. In Sachen Tempo, Durchsetzungsfähigkeit und Dynamik sind uns die Franzosen, Engländer und andere Nationen voraus." U21-Trainer Stefan Kuntz rät, Grundlegendes trainieren, um bei der EM 2024 in Deutschland als Titelanwärter mitzuspielen. "Früher hatten wir in jedem Jahrgang sieben Ausnahmetalente, jetzt sind es zwei." Fakt sei: "In zwei, drei Jahren könnten wir auf ein Tal zusteuern."

5. Der Fall Mesut Özil

Sportlich wiegt der Rücktritt von Özil schwer.

Ein Kind brachte das Thema Mesut Özil zurück auf die Agenda. Und die Reaktion auf die Frage eines Leipziger Schülers zeigt: So richtig locker kann der DFB mit dem aufsehenerregenden Rücktritt seines Spielmachers (immer noch) nicht umgehen. Mit belanglosen Sätzen umschiffte Leroy Sané den sichtbar unangenehmen Moment. Wohl selten hat der Abgang eines Fußballers Deutschland so aufgewühlt wie Özil mit seiner bizarren Social-Media-Abrechnung. Ausgerechnet der als unpolitisch geltend wollende Profi – das Foto mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan hat diesen Status allerdings ausgehebelt – hat den DFB mit seinen Rassismus-Vorwürfen auf ein Terrain gezogen, auf dem sich der Verband äußert ungern bewegt: Auf das der Meinungsstärke und Haltung. Für die braucht es nämlich mehr als schöne Bilder und Kampagnen, die die Integrationskraft des Fußballs als eigene Errungenschaft inszenieren. So ungeschickt sich Özil verabschiedet hat, so ungeschickt hat der DFB das Thema aufgearbeitet. Seit die Welle der Empörung abgeebbt ist, gibt es keine wahrnehmbare Aufarbeitung mehr. Vereinzelte Stimmen über einen ungeschickten Umgang, wie sie Jérôme geäußert hat, verhallen. Leider.

6. Aber wie soll es nun weitergehen?

Na, mit der Qualifikation für die Europameisterschaft 2020, die erstmals dezentral auf dem ganzen Kontinent ausgespielt wird. Die ersten Partien um die Teilnahmeberechtigung bei diesem Turnier stehen im März kommenden Jahres an. Ob die DFB-Elf nun als Gruppenkopf gesetzt wird oder nicht – dann bekommt sie wieder Gegner, die nicht ausschließlich zu der Güteklasse gehören, in der sich die Weltmeister aus Frankreich oder die Niederländer bewegen. Und auch wenn Spieler und Trainer sich bis dahin nicht mehr in der Gruppe sehen und gemeinsam üben können, hat Löw nun knapp vier Monate Zeit, sich zu überlegen, wie es weitergehen soll. Er jedenfalls hat für sich das Beste aus dem WM-Desaster gemacht und sitzt so fest auf seiner Trainerbank wie zuvor. Das muss man auch erst einmal schaffen, das Prinzip Aussitzen scheint beim DFB gut zu greifen. Schließlich sind auch Manager Oliver Bierhoff und Präsident Reinhardt Grindel weiter im Amt. Zu stark gelitten hat das Selbstbewusstsein des Bundestrainers jedenfalls nicht. Am Montagabend in Gelsenkirchen betonte er noch einmal, wie motiviert er sei. Froh, dass das Seuchenjahr vorbei ist, sei er nicht. Im Gegenteil. "Ich würde gerne noch das eine oder andere Spiel mit unserer Mannschaft machen." Die sei schließlich auf einem guten Weg. Und am Donnerstag in Leipzig klang er schon wieder wie der Löw, der vor einem Jahr versichert hatte, niemand müsse sich um die DFB-Elf Sorgen machen. Die EM-Qualifikation werde sein Team erfolgreich bestehen, hatte er nach dem 3:0 gegen Russland gesagt. Und dann gelte es, 2020 um den Titel mitzuspielen. War irgendwas?

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